Ein gelöstes Trauma ist ein Geschenk der Götter
Ich habe lange darüber nachgedacht, was der renommierte Traumaforscher Peter Levine gemeint haben könnte mit dem Ausspruch: „Trauma ist die Hölle auf Erden. Ein gelöstes Trauma ist ein Geschenk der Götter“.
Trauma: „die Hölle auf Erden“, ja, das macht Sinn. Ich denke an die Flucht meines Vaters mit sechs Jahren zusammen mit seiner Mutter und vier Geschwistern unter Kriegsbedingungen 1944. Das muss die Hölle auf Erden gewesen sein. Und ich denke an „Onkel Günthi“, den Bruder meines Vaters. Er starb am 1. Mai 1964 als Fußgänger, 21jährig, als ein alkoholisierter junger Autofahrer eine Straßenlaterne umfuhr. Dieser Schicksalsschlag und seine Folgen für die Familie hat meine Kindheit geprägt und überschattet. Und ja, meine eigene, ganz persönliche „Hölle auf Erden“, das war für mich, als mein damals fünfjähriger Sohn 1999 an Morbus Hodgkin erkrankte – und geheilt wurde.
Traumata gehören zum Menschsein. Ob bestimmte Erlebnisse für den Körper eines Menschen noch verarbeitbar sind oder aber traumatisierend wirken, ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Trauma entsteht dann, wenn ein einmaliges Erlebnis oder sich wiederholende Erlebnisse zu plötzlich, zu schnell oder zu massiv für einen Menschen sind, so dass seine Bewältigungs-mechanismen und damit sein Nervensystem weit überfordert sind.
Wir erleben sie alle, die kleinen und großen Schicksalsschläge, Schockmomente, Unfälle und Verluste, die traumatisierende Folgen haben können. Und nicht nur diese einschneidenden Erlebnisse können zu Traumata führen. Von Entwicklungs- oder Bindungstrauma wird gesprochen, wenn eine Reihe von stressauslösenden Ereignissen in der Entwicklung eines Kindes seelische Verletzungen nach sich zieht. Diese wirken im Leben eines Erwachsenen weiter – oft ohne es selbst zu wissen. Wir können dann Symptome entwickeln, etwa Ängste, Süchte, Getriebensein, Schlaflosigkeit, fühlen uns abgeschnitten, innerlich taub oder erleben das Leben wie getrennt durch eine Glasscheibe oder als schwindelerregende Achterbahnfahrt der Gefühle, haben wiederholte, starke Wutanfälle oder Depressionen. Dami Charf, eine Ausbilderin von mir, hat geschrieben:
„Ein Trauma durchwirkt unser Leben auf eine so grundlegende Art und Weise, dass es kaum noch wahrgenommen wird, weil es so normal erscheint.“ (Dami Charf 2008: 29)
Die Nachwirkungen traumatisierender Erfahrungen durchziehen unser Leben, behindern uns, unser volles menschliches Potenzial zu leben, begrenzen unsere Gefühle tiefer Verbindung zu anderen Menschen. Bindungs- und Beziehungsprobleme als Erwachsene sind oft die Folgen. Traumata aufzulösen ist nicht leicht und nicht einfach. Es ist ein Weg, der Zeit braucht, Mut und empathische und geschulte Menschen als Unterstützung.
„Ein gelöstes Trauma ist ein Geschenk der Götter“. Das Verständnis für diesen Satz kam mir vor ein paar Tagen bei einem Spaziergang. Ich saß morgens früh am Heiligen See, während meine Gedanken mich zu meinem rechten Zeh hinzogen. Auch sechs Monate nach dem Trümmerbruch ist er noch geschwollen, die kleine Metallplatte zeichnet sich unter der Haut ab, das oberste Gelenk ist immer noch steif. Tage zuvor hatte ich mit dem Chirurgen gesprochen. Ich werde ein zweites Mal operiert, um das Metall zu entfernen. Es besteht die Hoffnung, dass sich der Zeh dann besser bewegen lässt und mir wieder mehr Beweglichkeit schenkt. Ich schaue auf den See und spüre meine Angst. Wird die Operation gelingen und alles gut heilen? Wird mein Zeh wieder voll beweglich? Werde ich schmerzfrei gehen können? Und ich versuche, meine Angst zu begrüßen und sie zu würdigen: „Hallo, liebe Angst, willkommen, ja, es macht Sinn, dass Du Angst hast, lieber Körper, vor dem Ausgeliefertsein, willkommen alte, tief vergrabene Ängste und die Angst vor der OP und dem Wissen, dass jede Operation – so rettend sie auch sein mag – Spuren im menschlichen Körper hinterlässt.“
Während ich so versunken in meine Angst und Gedanken bin, wird meine Aufmerksamkeit auf ein paar kreischende Schwäne gelenkt, die sich mit ihrem schweren Körper wie behäbige Jumbojets langsam über dem See erheben. Eine Joggerin läuft an mir vorbei, strahlend erfreut auch sie sich an den Schwänen über dem glitzernden See. Unsere Blicke treffen sich kurz, wir lächeln uns an, während sie an mir vorbeiläuft. Mein Blick folgt ihr. Während der rechte Arm sich im Laufrhythmus bewegt, schlackert der linke Ärmel ihrer Trainingsjacke. Ich erkenne, dass sie nur einen Arm hat. Wieviel Lebensfreude dieser Mensch in diesem Moment versprüht – trotz oder vielleicht auch wegen des Handicaps. Mein Blick schweift zurück über den See, meine Angst hat sich vorerst verabschiedet. Ich empfinde Dankbarkeit, Demut und Empathie, genieße die Morgenstimmung am See.
Und da wusste ich plötzlich, was Levines Satz: „ein gelöstes Trauma ist ein Geschenk der Götter“ für mich bedeutet. In diesem Moment am See war die Zuversicht und Hingabe an das Leben im Hier und Jetzt größer als alle Angst vor Vergänglichkeit und Leid. Das ist ein Geschenk der Götter für mich.